Am Mittwoch war die Berliner Liedermacherin Dota Kehr mit ihrer Band zu Gast bei der Veranstaltungsreihe Draußen im Grünen in Hamburg, wo mit Hygienekonzept Open-Air-Livemusik in der Grünanlage Planten un Blomen ermöglicht wird. Über anderthalb Stunden lang präsentierte sie Stücke ihres aktuellen Albums Kaléko, eine Handvoll unveröffentlichter Songs sowie ausgewählte eigene Lieder aus dem letzten Jahrzehnt, die allesamt das konzerthungrige Publikum spürbar begeisterten.
Die Einlassmodalitäten sind kompliziert, das Sicherheitspersonal unfreundlich, aber das Publikum nimmt es gern in Kauf, denn dass überhaupt Kultur stattfinden kann, ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich. Völlig unerwartet ist schon 10 Minuten vor angekündigtem Beginn Wencke Wollny, aka Karl die Große, an der Reihe, als Vorprogramm den wenigen schon sitzenden Gästen ihre eigenen Stücke vorzustellen vor, während die meisten langsam ihre Plätze einnehmen oder Getränke holen. In den fortschreitenden gut 20 Minuten gewinnt sie allerdings wohlgesonnene aufmerksame Ohren für ihre langen, teils poppigen, bilderreichen deutschsprachigen Lieder.
Aber die Leute sind für Dota Kehr da. Schon vor dem ersten Stück stellt diese ihre Mitmusiker vor – darunter auch Wollny an Klarinette und Gesang – und vergewissert das Publikum: „Ich spreche im Namen der ganzen Band, wenn ich sage: Wir freuen uns so sehr, diesen letzten lauen Sommerabend hier in Hamburg für euch spielen zu dürfen.“
Das Konzert beginnt mit einer Reihe von Gedichtvertonungen aus der Feder der jüdischen Dichterin Mascha Kaléko, die im vergangenen Jahrhundert Lyrik mit oft melancholischem Touch und schönen prägnanten Metaphern verfasste. „Ich liebe ihre Gedichte. Sie schafft es immer, das Schwere so leicht auszudrücken.“ So beschreibt Dota ihre Faszination mit der Dichterin und führt gekonnt durch diesen Programmteil, indem sie bisweilen kurze Hintergründe zu Leben und Werk nennt. Etwa wenn man erfährt, dass der Text Resignation für Anfänger, der sich mit Vergänglichkeit und Sinnfindung beschäftigt, in Kalékos letztem Lebensjahr nach einer sehr bewegten Biographie entstanden ist, wirkt er umso ergreifender.
Musikalisch ist die Band dem Sound der Album-Versionen recht treu, was in diesem Falle eher zurückhaltende Arrangements bedeutet, kaum elektronische Sounds oder allzu penetrantes Schlagzeug, allerdings sehr angenehme Klarinetten-Elemente. Zu Wencke Wollny sagt Dota außerdem: „Ich bin so froh, dass du dabei bist und wir zusammen singen können.“ So können nämlich auch die Stücke, die auf CD als Duette aufgemacht sind, ebenso live gespielt werden. Besonders stark sticht darunter das Stück Blasse Tage hervor, das durch die zwei Stimmen sehr hypnotisch daherkommt.
Ein Einschnitt nach dem Kaléko-Teil entsteht, als Dota Kehr für fünf Lieder allein mit der Gitarre auf der Bühne steht. „Es ist keineswegs so, dass wir jetzt dieses Gedichtvertonungs-Album deswegen gemacht hätten, weil mir keine neuen Texte eingefallen wären.“ Das wird unter Beweis gestellt, indem einige unveröffentlichte Lieder folgen, die teilweise noch nicht hundertprozentig sitzen, aber in denen die Sängerin über jeden Texthänger charmant lachen kann. Ein Highlight ist ein humorvolles Stück über den Bademeister*innen-Job: „Er passt auf, dass keiner hinter der Linie, der roten, ist / Warum? – Weil es verboten ist.“
Zuletzt folgt eine Dreiviertelstunde eigener älterer Stücke im Band-Sound. Es stellt sich als würdiges Finale heraus, zumal die Musik teilweise lauter und zackiger wird. Da wird bisweilen mitgeklatscht und mitgesungen – und die Begleitband darf ihr Können weiter unter Beweis stellen, z.B. wenn in Das Wesen der Glut nämlich Janis Görlich, Jan Rohrbach und Jonas Hauer alle jeweils Gelegenheit bekommen, eine Solo-Einlage hinzulegen. Nach dem langen, kraftvollen, düsteren Warten auf Wind heißt es scherzhaft: „Mascha hätte es wahrscheinlich in vier Zeilen gesagt.“
Ein weiteres unveröffentlichtes Stück („Haltet ihr noch ein Experiment aus?“) namens Funken schlagen, für das es offenbar schon ein Band-Arrangement gibt, findet seinen Weg in den letzten Konzertteil.
Die Corona-Situation wird im Laufe des Abends nicht allzu sehr thematisiert – nur durch überschwängliche Freude über die Auftrittsmöglichkeit an sich und vielleicht kleine Randbemerkungen wie diese: „Das ist auch in jedem Bundesland anders: Offenbar stehen die Stühle so, dass irgendein Bezirksamt gesagt hat: Ihr dürft mitsingen.“ (Ein Verkaufsstand für CDs hingegen ist nicht genehmigt worden.)
Als das Publikum über das nahende Konzertende seine Enttäuschung äußert, erwidert Dota zurecht: „Wir haben so viel gespielt! Es war wie drei Konzerte: Es gab ein Kaléko-Konzert, ein Solo-Konzert und dann noch ein Band-Konzert mit eigenen Stücken…“ Eine treffende Zusammenfassung.
Zwei Zugabenlieder kann das Publikum sich noch erklatschen, wovon das fatalistische Raketenstart den endgültigen Abschluss bildet: So bleibt der düstere Refrain „Wir hab‘n die Katastrophe kommen seh‘n“ dem Publikum beim Nachhauseweg durch die Grünanlage im Ohr. Aber wenn man umfassender zurückdenkt an die Musik, die Kulisse, laues Wetter, die ganze Ausnahmesituation, dann urteilt man wohl eher, wie es im großstadtromantischen Stück Julinacht an der Gedächtniskirche so schön hieß: „Wie seltsam, dass jetzt fern noch Dörfer sind, / in denen längst die letzte Uhr geschlagen, / wenn noch zu lauten, nutzlos langen Tagen / uns selbst die schönste Sommernacht gerinnt.”
Dotas Tourdaten und Onlineshop gibt es auf kleingeldprinzessin.de.
Draußen im Grünen läuft noch bis 4. Oktober. Es kommen u.a. noch Die Höchste Eisenbahn, Bernd Begemann, Anna Depenbusch. Infos auf draussenimgruenen.de.